Diese Frage kann ich pauschal nicht beantworten! Denn jedes Kind hat ein eigenes Tempo, vor allem weil auch jedes Kind schon eine eigene Geschichte hat. Ein Kind nach einer entspannten Hausgeburt hat sicher einen anderen Start ins Leben als ein Kind nach einem Notkaiserschnitt mit der Nabelschnur um den Hals. Beide Kinder werden sich anders in der Welt „bewegen“.
Außerdem geht jedes Individuum anders mit derselben Situation um und ich finde, das beginnt sofort bei unserer Geburt. Einigen Kindern scheint ein Trauma nicht viel anzuhaben, andere werden zu Schreibabys, ohne dass wirklich eine Ursache dafür vorliegt. Vergleichen ist also zwecklos und löst nur Stress und Unmut aus.
Für mich ist überhaupt nicht wichtig, in welchem Monat ein Baby etwas macht, sondern ob vorher alles schön der Reihe nach und in einer guten Qualität abgelaufen ist. Keine Ahnung, warum immer die Zahl dahinter am wichtigsten scheint. Egal wie es aussieht, Hauptsache wir können den nächsten Entwicklungsschritt abhaken… So ist oft mein Eindruck!
Laut der meisten Entwicklungstabellen da draußen setzt sich die Mehrheit der Kinder mit 8-9 Monaten allein auf. Die Spannbreite in der Realität ist aber viel größer - sie reicht von 5 Monate bis weit über ein Jahr.
Was macht einen gesunden Sitz aus?
Am wichtigsten ist, dass sich das Kind ganz allein vom Boden nach oben in die Aufrichtung kommt - entweder über die Gartenzwergposition (aus der Seitlage) oder aus dem Vierfüßlerstand in den Seitsitz.
Sobald du immer daneben sein musst und es eine Absicherung mit Polsters oder ähnlichem braucht, ist es nicht gesund. Denn dann hat die Wirbelsäule mehr zu tragen als sie kann, denn wenn ein Kind muskulär bereit ist, dann setzt es sich auch von allein auf. Wenn es das noch nicht macht, dann ist der kleine Körper noch nicht bereit dafür.
Das verfrühte Hinsetzen birgt u.a. eine enorme Verletzungsgefahr. Gar nicht unbedingt für den Moment, denn die meisten Kinder werden ja sehr gut „abgesichert“ - aber es lernt (ohne alleiniges Aufsetzen) keine richtigen Gleichgewichts- und Stützreaktionen und das wird später beim Hinfallen oft ein Thema.
Viele Kinder, die zu früh hingesetzt werden, haben oft auch einen krummen Rücken - die sogenannte Sitzkyphose. Gesund wäre ein gerader Rücken und viel Bewegungsspielraum. Wenn ein Kind völlig gefangen ist in diesem Sitz, dann ist das nicht gesund und vor allem fehlt wieder das Training am Boden, um ins Sitzen zu kommen.
Gesund ist eine Variabilität in der Bewegung - das Kind sollte immer wieder zwischen Seitsitz, Fersensitz und Langsitz hin und her wechseln.
W-Sitz - gesund, oder doch nicht?
Beim W-Sitz zeigen die Knie nach vorn und die Füße zeigen nach hinten und liegen neben dem Po. Die Basis ist somit sehr verbreitert und viel stabiler als im Langsitz oder Schneidersitz. Die Anatomie lässt bei den Kindern diese Stellung zu und somit ist es vom Grunde her nichts Schädliches.
Ich erlebe den W-Sitz aber sehr oft als motorische Sackgasse und vor allem als EINZIGE Sitzvariante vieler Kinder, die dann meist auch andere Auffälligkeiten wie ständig offenen Mund, Einnässen, Rectusdiastase, Wahrnehmungsprobleme, Knick-Senkfüße usw. zeigen. In diesem Fall ist der W-Sitz ein Symptom der Haltungsschwäche. Die meisten dieser Kinder können den Schneidersitz gar nicht oder bleiben nicht länger als eine Sekunde darin sitzen.
Dabei sollte aber immer beides funktionieren - Schneidersitz und W-Sitz. Der W-Sitz ist aus anatomischen Gründen für viele Kinder lange möglich, aber sollte eben nie isoliert betrachtet werden.
Woher kommen all Missverständnisse rund ums Sitzen?
Ich (und auch andere Therapeut:innen) glauben immer, dass es schon genug Infos darüber gibt, dass das passive Hinsetzen nicht gesund ist. Aber leider scheint es noch nicht genug, denn ich und auch andere sehen es immer wieder in der Praxis.
Oft kommen die Eltern wegen ganz anderen Themen - setzen das Kind auf die Matte und ich sehe sofort, dass dieses Kind sich ganz sicher noch nicht allein aufsetzen kann. Ich muss mir dann immer auf die Zunge beißen, dass nicht die erste Frage gleich ist: „Kann es sich schon allein vom Boden aufsetzen?“ - meist ist es meine zweite Frage 😉.
Bei unseren Kindernphysio-Treffen fragen wir uns immer wieder, woher das kommt, dass so viele Kinder passiv hingesetzt werden. Woher kommt dieser extreme Stress in unserer Gesellschaft her?
Eine mögliche Erklärung liegt bei den Ärzt:innen:
Denn ich höre oft von den Eltern, dass Ärzt:innen bei der MuKi-Pass-Untersuchung (U3) nachfragen, ob das Kind schon sitzen kann. Das sendet ein völlig falsches Signal an die Eltern, denn die wenigsten Kinder können sich mit 6 Monaten schon allein vom Boden aufsetzen. Wenn ja, dann sind es wahrscheinlich Zweitgeborene, die ihren älteren Geschwistern hinterher wollen. Die Eltern gehen dann nach Hause und glauben, dass sie diese Schritt jetzt mit ihrem Kind üben müssen. Sie setzen es dann hin, sichern es ab und glauben, dass sie ihrem Kind damit helfen schneller sitzen zu lernen.
Das ist aber ein Missverständnis, denn „Sitzen übt man nicht mit Sitzen!“. Die Basis für einen stabilen Sitz und somit einen kräftigen Rumpf wird mit der Bewegung am Boden (Drehen, robben, kriechen usw.) gelegt.
Im Mutter-Kind-Pass (zumindest hier in Österreich) ist ein Bild von einem sitzenden Kind in der Entwicklungstabelle. Was man aber nicht sieht ist, dass das Kind gehalten wird. Ich habe bis heute nicht verstanden, was es mit diesem Bild auf sich hat und was das „beweisen“ soll. Dieses Bild sollte aus dem Mu-Ki-Pass verschwinden, denn es sorgt dafür, dass viele Kinder später gesundheitliche Probleme haben. Dieses Bild und die Aussagen der Ärzt:innen bringt nur Verwirrungen und viel zu viele Kinder in Positionen, die nicht gesund sind für sie, die Wirbelsäule und die weitere Entwicklung.
Ein weiteres Problem ist sicher unsere schnelllebige Leistungsgesellschaft, in der sogar schon die Kinder miteinander verglichen werden, obwohl jedes Kind völlig individuell ist. Wenn dann die Mama oder der Papa sieht, dass ein jüngeres Kind schon sitzen kann, dann gehen sie heim und üben es.
Was können Gründe für verspätetes Hinsetzen sein?
Ein Grund ist sicher, wenn das Kind z.B. schon ab den ersten Monaten immer wieder passiv aufgesetzt wird. Es kennt nichts anderes und kommt nicht genug in Positionen (einfach mal nur am Bauch liegen), in denen es für die nächsthöhere Ebene trainieren kann.
Die Kinder fordern es dann ein und ich habe schon oft erlebt, dass sich 8-9 Monate alte Babys nicht mehr ohne lautes Geschrei auf den Bauch legen lassen, weil sie gefühlt zu Hause nur sitzen. Das ist ein großes Problem, denn nur aus der Bauchlage lerne ich das Sitzen.
Viele Kinder werden aufgesetzt, weil sie dann angeblich zufriedener sind. Aber kein Kind denkt sich: „Ich will jetzt sitzen.“ Es kennt es nur zu diesem Zeitpunkt meist schon nicht mehr anders.
Meiner Meinung nach braucht es aber genau diesen kleinen Frust in der Bauchlage, wenn es einfach noch nicht so recht vorwärtskommt, um überhaupt in die Gänge zu kommen und nach höheren Ebenen zu streben.
Bei Frühchen (geboren vor der 36. SSW) rechnet man bis 1 ½ Jahre die Zeit ab, die sie zu früh geboren sind. Von einem Baby, dass in der 35.SSW geboren wurde, erwarte ich mir z.B. nicht, dass sie mit genau 8 Monate sitzen können.
Viele Kinder mit einem schwachen Rumpf tun sich sehr schwer sich gegen die Schwerkraft aufzurichten und deshalb setzen sich auch oft erst spät selbst auf. Weil es eben vorher den Weg in den Vierfüßlerstand braucht und das ist bei Rumpfschwäche schwierig.
Wenn Babys Einschränkungen in den Hüften haben, dann kann das auch am Sitzen hindern, denn für den Seitzsitz ist z.B. eine ausreichende Hüftbewegung notwendig, um länger schmerz- und spannungsfrei sitzen zu können.
Was kommt vor dem Sitzen?
Vor dem Sitzen braucht es einiges auf dem Weg: die Bauchlage, den Handstütz in der Bauchlage, das Drehen am Boden - über beide Seiten, denn da werden die Bauchmuskeln trainiert, der Vierfüßlerstand und aus dem setzt sich die Mehrheit der Kinder in den Seitsitz.
Ab wann aufrecht im Kinderwagen?
Ich sehe sehr häufig Babys aufrecht im Buggy sitzen, die sicher noch nicht allein sitzen können. Die Rückenlehne bitte nicht aufstellen, solange das Kind sich noch nicht eigenständig vom Boden aufsetzen kann und stabil sitzen kann.
Ich wünsche mir immer die alten Kinderwägen zurück - die aber heutzutage leider schnell zu klein werden.
Wann darf ich mein Kind in den Hochstuhl setzen?
Hier bekommst du dieselbe Antwort von mir: „Wenn es sich ganz allein vom Boden in den Sitz aufsetzen kann“ - vorher nur in Ausnahmefällen und so kurz wie möglich bei der Nahrungsaufnahme.
Wenn du mehr darüber wissen möchtest, was gesund ist und wann es sinnvoll wäre, eine Therapeutin aufzusuchen, dann hol dir meinen Onlinekurs und erfahre alles über die gesunde motorische Entwicklung deines Babys.
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Jens (Donnerstag, 30 März 2023 23:46)
Hallo Verena,
Ich habe deine Seite über die Google Suche nach „Beine des Babys hochlegen“ gefunden, da wir festgestellt haben, dass unser Kleiner dann weniger Probleme mit Luft im Bauch hat, während er schläft. Wir waren uns jedoch nicht sicher, ob es zu Problemen mit der Wirbelsäule führen könnte. Ich bin froh, dass dies nicht so ist.
In dem Artikel habe ich dann mit Schrecken gelernt, dass man Babys nicht passiv aufsetzen soll. Unser Kerl ist erst vier Wochen alt und wir tragen ihn oft in einer Sitzhaltung, um Bäuerchen zu machen und auch sonst als Abwechslung zum über die Schulter legen oder liegen, was er manchmal nicht mag. Aber auch zu weiteren Gelegenheiten auf der Couch. Außerdem sitzt er im Babysitz im Auto und im Newborn Set eines berühmten norwegischen Baby-Stuhl Herstellers.
Möglicherweise sind das weitere Gründe, warum Eltern dazu neigen ihr Kind verfrüht hinzusetzen?
(Jetzt gerade habe ich festgestellt, dass es inzwischen ein neues Newborn Set gibt, welches sich auch in eine vollständig liegende Position stellen lässt. Der Hersteller hat also vielleicht auch dazu gelernt.)
Der eigentliche Grund für meinen Kommentar war, um zu fragen, ob die eher sitzende Position des Newborn Set, die die alte Version des Sitzes ausschließlich erlaubt, bereits als passives Aufsetzen verstanden werden muss und man auf die Schale besser verzichten sollte?
Ansonsten frage ich mich, ob Po-Rutschen nicht eher das indirekte Resultat aus Mangel an Übung der Bauchlage ist, da diese keinen offensichtlichen praktischen Nutzen hat und man sie explizit üben muss, als ein direktes Resultat des passiven Sitzens, was (leider) schon irgendwie einen praktischen Nutzen hat. Somit, und ich spreche da aus meinen persönlichen Erfahrungen des vergangenen Monats heraus, neigt man ggf dazu die Bauchlage zu unterschätzen und zu vernachlässigen und gleichzeitig das passive Sitzen, im Verhältnis, über zu praktizieren!?
Wie dem auch sei, wir werden nun versuchen, aufrechte Haltung und speziell passives Sitzen nach Möglichkeit zu vermeiden!
Ganz nebenbei, hier in dem Artikel ist mir aufgefallen, dass es wohl Unterschiede in den Bezeichnungen der U-Untersuchungen zwischen Österreich und Deutschland gibt. In D ist die U3 bereits mit 4 Wochen. Wir wurden deshalb bei unserer U3 natürlich nicht gefragt, ob der Kleine schon sitzen kann. Aber ich entnehme dem Text, dass die U3 in Ö mit etwa 6 Monaten stattfindet.
Danke für deine tollen Beiträge und liebe Grüße aus Deutschland!