“Wie soll das Kind denn dann gehen lernen?”
Das war die Frage eines Opas, als seine Tochter ihm gesagt hat, dass sie kein Gehfrei für ihr Baby bzw. das Enkelkind wünscht. Das ist ein Mythos, der sich sehr hartnäckig hält.
Ein Zeichen, dass wir als Kinderphysiotherapeut:innen nicht genug darüber reden können - auch wenn wir oft glauben, dass wir es schon oft genug erwähnt haben und dass es schon genug Aufklärung gibt, die davor warnen in die Entwicklung deines Babys einzugreifen.
In welchem Alter sollte (d)ein Baby gehen lernen?
Die berühmten Meilenstein-Poster zeigen den freien Gang um den 11. oder 12. Monat an. Diese Poster zeigen aber immer nur den Durchschnitt, also die Zeit, in der es ca. 80 % der Kinder schaffen, ohne Hilfe frei zu gehen.
Ich habe in der Therapie eine Spanne von 12 bis 18 Monate als Richtwert. Es gibt immer mal wieder Kinder, die erst mit 20 oder 22 Monaten zum Gehen kommen.
Manchmal landen sie dann noch in der Therapie, weil die Füße auffällig sind oder sie noch sehr wackelig unterwegs sind. In seltenen Fälle steht der Verdacht einer neurologischen Erkrankung im Raum.
Meist ist aber auch hier die Wahrnehmung oder eine noch nicht ausreichende Rumpfstabilität die Ursache.
Stresse dich und dein Kind nicht, schließlich ist es noch lang genug auf den Beinen. Für mich kann die Krabbelphase nicht lang genug sein - mit dem Wissen, dass sie ein gutes und stabiles Gangbild bestmöglich unterstützt.
Welche Varianten gibt es am Weg zum Gehen lernen?
Die Mehrzahl der Kinder beginnt um den 10. Monat herum, sich an Gegenständen aller Art oder auch an den Eltern hochzuziehen. Das ist KEINE Aufforderung an die Eltern, mit dem Kind zu gehen, sondern einfach der nächste Schritt am Wege zum freien Gang.
Dein Baby muss alles gefühlte 4000x wiederholen, bevor es im Gehirn als normal und gelernt abgespeichert wird.
Allerdings starten viele Eltern ein Lauftraining mit ihren Kleinen, sobald die Kinder sich die ersten Male hochziehen. Dabei fehlen bei diesem passiven Vorgehen einige Schritte am Wege, wie zum Beispiel das seitliche Gehen, dass vor allem die Aufrichtungsmuskulatur im Gesäßbereich trainiert wird.
Dadurch, dass bei vielen Kindern diese Phase sehr kurz ist und sofort das frontale Gehen an den Händen im Vordergrund zu stehen scheint, sehe ich oft Probleme mit der Aufrichtung bei älteren Kindern in meiner Praxis.
Einige Kinder gehen viel im Kniegang, bevor sie zum freien Gang kommen. Ich sehe das vor allem bei Babys mit leichten Entwicklungsverzögerungen. Das ist sehr schlau von den Kindern, wie du in diesem Artikel nachlesen kannst.
Stolpersteine am Weg zum freien Gang
Was könnten mögliche Verzögerungen am Weg sein?
(Noch) zu wenig Rumpfstabilität
Kein Kind wird allein losgehen, wenn der Körper nicht bereit dafür ist.
Das gesamte erste Lebensjahr nötig, um zum freien Gehen zu kommen. Ein Schritt baut auf dem anderen auf und wenn zu viele Schritte übersprungen oder ausgelassen werden, dann wirkt sich das negativ auf die weitere Entwicklung aus. All das Training und Bewegen am Boden dient nur einem Zweck - den Rumpf und den Körper auf die Vertikale und das Gehen vorzubereiten.
Mach deinem Kind mal für 5 Minuten alles nach und du weißt, wovon ich spreche.
Fußfehlstellungen
Ich hatte mal einen kleinen Jungen mit Sichelfüßen, der ständig aufgestanden und es war gar nicht so leicht ihn einzubremsen. Er ist schon mit 7 Monaten immer wieder aufgestanden.
Seine Fußfehlstellung hat dann aber dazu geführt, dass er erst verhältnismäßig spät wirklich allein gehen konnte.
Wahrnehmungsprobleme
Viele dieser Kinder fallen schon bei der ärztlichen Untersuchung auf, in der die Stehbereitschaft getestet wird. Das ist meist bei der Untersuchung von 7 bis 9 Monate der Fall.
In der Zeit können noch die wenigsten Kinder gehen, aber es sollte die Bereitschaft dazu sichtbar sein.
Diese Kinder lassen sich ungern (an den Füßen) angreifen, wollen entweder nur mit oder nur ohne Socken sein.
Schuhe
Bitte zieh deinem Kind keine Schuhe an, bevor es noch nicht allein gehen kann. Oft sehe ich Deko-Schuhe und leide ein bisschen, denn dann kann das Baby seine eigenen Füße nicht mehr berühren und in den Mund nehmen. Außerdem ist es zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich möglich, die Füße gut auszumessen. Kinder spüren nicht, wenn die Schuhe zu klein sind. Dafür gibt es inzwischen sehr viele Studien aus Kindergärten.
Barfuß ist immer das Beste.
Zu viele Hände im Einsatz
Wenn dein Baby anfängt sich an dir und allem möglichen hochzuziehen, dann ist die Versuchung groß, dem Kind die Hände zu geben. Wenn du damit einmal startest, dann fordert es dein Baby immer wieder ein.
Viele Eltern sehen das dann als Impuls, dass das Kind gehen möchte. Das ist aber nicht der Fall, sondern jedes Mal hochziehen ist Training, um irgendwann selbstständig zu gehen.
Zu viel Gehen an den Händen
Das Gehen an den Händen hat eine ganz andere Dynamik und Aufrichtung als das freihändige Gehen. Wenn dein Kind zum Beispiel einen Stuhl durch die Gegend schiebt, dann stützt es sich ab und geht sehr aufrecht.
Wenn du von oben dem Kind die Hände gibst, dann hängt es an deinen Händen und kann oft gar nicht ausreichend Körperspannung aufbauen, die für ein stabiles Gangbild notwendig ist.
Jedes gesunde Kind wird dann gehen, wenn es Zeit dafür ist - nicht früher und nicht später.
Zu viel Gehen an der Hand zögert das freie Gehen meist sogar noch hinaus, anstelle es zu beschleunigen, wie viele leider denken.
Ist Hilfe beim Gehen lernen nötig?
Eindeutig NEIN, denn ein gesundes Kind kommt immer zum Gehen und es sollte dabei, meiner Meinung nach, nie um die Geschwindigkeit, sondern immer um die Qualität des Gehens ankommen.
Hier kommen meine 5 Tipps, um dein Baby beim Gehen lernen zu unterstützen
#1 Verzichte auf Türhopser oder ähnliches
Diese stören die gesunde motorische Entwicklung massiv, da sie falsche Bewegungsmuster trainieren.
Baby kommt in die Vertikale, obwohl es von allein noch gar nicht dazu in der Lage ist.
Das ist deshalb gefährlich, weil die Muskulatur noch gar nicht bereit ist für diese aufrechte Position.
Dasselbe gilt übrigens fürs Sitzen - aber dazu gibt es einen eigenen Artikel.
#2 Verzichte unbedingt auf das Gehfrei als Hilfsmittel
“Wie soll das Kind denn dann gehen lernen?”
Das war die Frage eines Opas, als seine Tochter ihm gesagt hat, dass sie kein Gehfrei für ihr Baby bzw. das Enkelkind wünscht. Das ist offensichtlich ein Mythos, der sich noch immer hält.
Dabei ist inzwischen erwiesen, dass ein Gehfrei das Gehen lernen sogar behindert und diese Kinder oft später anfangen zu gehen als andere.
Im Gehfrei wird ein völlig falsche Gehmuster antrainiert - das Baby ist ohne wirkliche Gewichtsübernahme in der Vertikalen, steht und geht auf den Zehenspitzen und ist dabei viel zu schnell unterwegs.
Die Babys können in Gehfreis bis zu 10 km/h erreichen und das macht es extrem gefährlich. Es hat überhaupt noch kein Gefahrenbewusstsein und so sind Treppenstütze immer noch vorprogrammiert. Außerdem gelangen die Kinder an Gegenstände, die sie vom Boden überhaupt nicht erreichen würden. So kommt es immer wieder zu Verbrennungen oder anderen Verletzungen.
Das Gleichgewichtssystem ist mit dem Ganzen voll überfordert.
In Kanada wurde der Verkauf im Jahre 2004 verboten, Skandinavien und einige weitere Länder zogen nach. Bei uns sind sie leider noch immer erhältlich und das finde ich sehr schade und bedenklich.
#3 Steck deine eigenen Hände in die Hosentaschen und schaue deinem Kind fasziniert zu, während es Gehen lernt
Ich erlebe Kinder als so intuitiv und unbewusst scheinen sie immer zu wissen, was gut für sie ist.
Lass also deine Hände in den Hosentasche und vertraue deinem Kind. Auch dazu habe ich schon einen Artikel geschrieben.
Sei ein:e Cheerleader:in und keine Bremse ... denn dein Kind hat ein eigenes Tempo, egal wie schnell oder langsam das gleichaltrige Nachbarskind ist.
Jedes Kind ist individuell, hat eine eigene Geschichte (Geburt, Genetik, ...) und somit auch einen eigenen Weg der Entwicklung.
#4 Lass dein Baby viel barfuß sein
Die Füße sind eine Begrenzung des Körpers und deshalb ist es sehr wichtig für die Entwicklung, dass dein Baby jederzeit die Füße in die Hand und in den Mund nehmen kann. Leider haben heute die meisten Babys viel zu oft Socken und Schuhe an.
Stutzen sind immer eine gute Möglichkeit, dein Kind vor möglicher Kälte zu schützen.
Hinweis: Anhaltspunkt, ob deinem Kind kalt ist, ist der Nacken und nicht die Füße selbst.
Wenn barfuß-sein absolut nicht möglich ist, dann greife bitte auf Socken zurück, die eine durchgehende Kautschuksohle haben.
#5 Jedes Baby lernt gehen von Fall zu Fall
Ich erlebe in meiner Praxis oft, dass die Eltern ihre Babys gern vor Unfällen oder dem Fallen allgemein schützen möchten.
Mein Kommentar dazu ist dann: “Jeder Sturz ist wichtig am Weg zum freien Gehen.”
Zu viel Vorsicht am Anfang birgt großes Verletzungsrisiko in der späteren Entwicklung, denn dein Kind verlässt sich dann immer auf die vermeintliche Sicherheit (deiner Hände) und lässt zum Beispiel einfach los, wenn es oben ist am Klettergerüst - weil du hast ja sowieso deine Hände immer da.
Was wird aber, wenn du mal nicht (mehr) daneben stehst?
Therapeutisches Fazit:
Ein gesundes Baby braucht keinerlei Hilfsmittel, um zum Gehen zu kommen - die Möbel der Wohnung reichen vollkommen aus.
Leider habe ich bei meiner Recherche einige Webseiten gefunden, die das Wort Eltern oder Kompass in ihrem Namen haben und trotzdem eine „Werbeseite“ für Gehfreis haben. Eine Schande und verständlich, dass viele Eltern gar nicht wissen, wie sehr sie ihrem Kind damit schaden können, wenn es doch immer wieder empfohlen bzw. beworben wird.
Kommentar schreiben